tschick

Mathilde mag tschick an einem Sommernachmittag
Es gibt einen Text von Astrid Lindgren, in dem sie den schönsten Moment in ihrem Leserleben beschreibt. Wenn sie als Kind ein neues Buch bekam, steckte sie zuerst ihre Nase in die druckfrischen Seiten und schnupperte an der Druckerschwärze. Voller Vorfreude auf all die wunderbaren Geschichten, die auf sie warteten. Ich kann das verstehen.

Mein Moment beim Lesen ist trotzdem meistens ein anderer. Gerade habe ich Wolfgang Herrndorfs Roman „tschick“ zu Ende gelesen. Der beste Moment ist eindeutig der, wenn ich meinen Namen auf die erste freie Seite im Buch schreibe und überlege, welchen Platz es in meinem Bücherregal bekommt. Bücher, die so mittel waren, verschenke ich manchmal. Die brauchen meinen Namen nicht. Schlechte Bücher vergesse ich. Aber Bücher, bei denen ich so etwa in der Mitte anfange mir Sorgen zu machen, dass ich zu schnell fertig damit sein könnte, Bücher, bei denen ich hinterher, wenn ich sie schon ausgelesen habe, noch mal nach den schönsten Passagen suche, mich an einzelnen Sätzen freue, die Geschichte hin und her denke, solche Bücher haben einen Platz bei mir.

Genau so ein Buch ist „tschick“. Herrndorf erzählt die Geschichte von zwei 14-jährigen Jungs, Maik und Tschick, die irgendwie den Sommer rumbringen müssen. Tatjana, das schönste Mädchen der Klasse hat sie nicht zu ihrer Geburtstagsparty eingeladen. Alle anderen aber schon, fast alle jedenfalls. Maik ist am Boden zerstört. „“Tatjana heißt mit Vornamen Tatjana und mit Nachnamen Cosic. (…) Und ich könnte logisch noch ihr Aussehen ganz genau beschreiben und ihre Stimme und ihre Haare und alles. Aber ich glaube, das ist überflüssig. Weil kann sich ja jeder vorstellen, wie sie aussieht: Sie sieht super aus. Ihre Stimme ist auch super. Sie ist einfach insgesamt super. So kann man sich das vorstellen.“ Zum ersten Mal konnte ich mir, die ich keine Erfahrungen als Junge habe, vorstellen, wie das ist ein 14-jähriger Junge zu sein: ein bisschen unglücklich verliebt, die ganzen langen Sommerferien vor sich. Zurück zu Maik, der hat die Sommerferien vor der Nase, seine Eltern allerdings weniger: die Mutter geht zum wiederholten Male in die Entzugsklinik und sein Vater mit der jungen Assistentin auf Geschäftsreise. Zurück bleibt Maik mit 200 Euro und der Aufforderung sich ordentlich zu benehmen. Aber dann kreuzt Tschick auf, der erst seit kurzem in Maiks Klasse geht. Irgendwie hat es der Aussiedler aus der Hochhaussiedlung in Hellersdorf von der Förderschule aufs Gymnasium geschafft. Und jetzt überredet er Maik mit ihm in einem geklauten Wagen loszufahren. Gemeinsam kreuzen die beiden Jungs mit ihren halbgaren Fahrkünsten durch die ostdeutsche Provinz. Und könnten nicht weiter weg sein. Ich jedenfalls verirre mich nie auf Müllhalden, einsame Waldwege und schon gar nicht in das Sperrgebiet des Braunkohletagebaus. Es könnte genauso gut der Mond sein, über den die Beiden in all ihrer Unbedarftheit stolpern.

Wolfgang Herrndorfs Sätze nehmen mich mit auf eine Reise, die weiter nicht weg führen könnte. Da ist der Braunkohletagebau noch das Geringste. Es sind die Begegnungen. Zum Beispiel die mit Hanna: „Hanna hat kurzes schwarzes Haar und trägt normale Unterwäsche. Diese andere Unterwäsche sieht ja immer ein bisschen traurig aus. Bei den meisten. Wenn man nicht gerade die Figur von Megan Fox hat, kann das ziemlich verzweifelt aussehen.“ Oder die hier: „Mika Häkinen ist ein Scheiß gegen mich.“ „Das hast Du schon gesagt.“ „Stimmt’s nicht?“ „Nein.“ „Im Ernst. Fahr ich nicht gut?“, fragte Tschick „Ganz toll“, sagte ich und in Erinnerung daran, dass das die Standardantwort meiner Mutter auf die Standardfrage meines Vaters war, sagte ich noch. „Ganz toll, Liebling.“ Ganz toll, Liebling, das Buch ist ganz toll.

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