Was ist das Schönste, das mir mit einem Buch passieren kann? Dass wir uns ein Stück des Weges begleiten und wenn es gut ist, darf das Stück gerne ein bisschen länger sein. Ich glaube fast, das ist das Beste. Eintauchen in eine fremde Welt. Jedenfalls habe ich das gedacht, als ich Donna Tartts The Goldfinch gelesen hatte.
Bevor
ich den Distelfink angefangen habe, las ich rechts und links, das Buch sei vielleicht nicht schlecht, aber bestimmt zu lang. 864 Seiten seien doch eine Menge für die Erkenntnis, dass das Leben eine Katastrophe sei, man aber nun mal kein anderes habe und darum irgendwie damit zurecht kommen müsse. Ich finde den Ansatz irgendwie seltsam. Liest man (nur) um Erkenntnisse zu gewinnen? Wäre es dann nicht viel einfacher, eben die Erkenntnis zu lesen und gut ist. Danach schnell weiter mit dem eigenem Leben.
Nein, die Geschichte von Theo Decker, dessen Mutter bei einem Bombenanschlag auf das Museum of Modern Art stirbt und der anschließend mit gerade mal 13 Jahren irgendwie allein durch’s Leben stapft (der Vater hatte sich schon vorher aus dem Staub gemacht), diese Geschichte ist toll. Theo bekommt Hilfe. Die Familie eines Schulfreundes nimmt ihn vorerst auf. Bis der Vater, ein spielsüchtiger Alkoholiker, von der Versicherung informiert, Geld wittert, und den Sohn aus den relativ behüteten Verhältnissen an der Upper East Side reißt. Gerade hatte Theos Leben zwischen der Familie Barbour und dem Antiquitätenhändler Hobie so eine Art Alltags-Zufriedenheit bekommen. Die Erwachsenen wissen nicht so recht, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Schließlich ist der Vater der einzige biologische Verwandte und damit Erziehungsberechtigte. Theo verschlägt es mit diesem komplett verantwortungsbefreiten Vater und seiner Freundin Xandra nach Las Vegas. Im grellen Licht der Wüste findet er mit Boris einen echten Freund. Gemeinsam lassen sich die beiden Teenager immer öfter in einem Meer der Drogen-geschwängerten Haltlosigkeit treiben. Bis der Vater sich volltrunken bei einem Verkehrsunfall umbringt. Da ist sie wieder die Angst vor dem drohenden Kinderheim, die Theos Leben schon in New York getrieben hatte. In einer Nacht und Nebel-Aktion fährt der 16-Jährige mit einem Greyhoundbus zurück nach New York, den einzigen Ort auf der Welt, der sich ein bisschen wie Heimat anfühlt.
Es macht nichts, überhaupt nichts, dass sie jetzt schon einen guten Teil der Handlung kennen. Darauf kommt es nicht an. Das Wie der Erzählung, die Detailverliebtheit, mit der Donna Tartt ihre Milieus erzählt ohne je langweilig oder langatmig zu sein, im Gegenteil phasenweise hat ihre Geschichte eine Sogwirkung, wie sie gute Thriller entwickeln, das macht den Reiz aus. Ich war da, ich habe mit Theo zwischen den antiken schweren Möbeln an der Upper West Side gewohnt, ich habe mich wie er zwischen all der Etikette und dem glänzenden Chintz der Vorhänge unsicher gefühlt. Stets bemüht ein angenehmer Gast zu sein. Und die unaufgeregte Ruhe im verstaubten Antiquitätenladen von Hobie, dessen Lebensgefährte zufällig neben Theo im Museum gestorben war, ich habe mit Theo aufgeatmet. Ich habe sogar verstanden, warum er später im gleißenden Licht von Las Vegas ein paar Momente seinen Vater mochte, obwohl der sich nie ernsthaft um ihn gekümmert hat.
Kurz ich finde The Goldfinch, wie der Roman im amerikanischen Original heißt, großartig, die genauen Beschreibungen, die Orte, Situationen und die Stimmungen der Protagonisten in meinem Kopf entstehen lassen, ohne, dass sich das wie dargereichte Informationshäppchen anfühlt – wunderbar. Ist das nicht alles, worauf es ankommt? Ein Autor öffnet mir eine unbekannte Welt, entführt mich in seine Sprache, seinen Rhythmus. Und weil er das so gut macht, freue ich mich auf Seite 200 das noch über 600 weitere Seiten vor mir liegen. Diese 864 Seiten haben unterschiedliche Geschwindigkeiten, mal treibt die Geschichte voran, wie ein Thriller, dann wieder fließt sie wie ein langer ruhiger Fluss.
Dabei verschwendet man keine Lebenszeit. Pff, ihr Kritiker, ein Buch ist doch kein Aktienderivat, das für seinen Preis (Geld + investierte Lebenszeit) eine bestimmte Rendite (Lebenserkenntnis) bringen muss.
Lesen Sie das, verschwenden Sie ihre Jugend darüber.
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