Vom Anderswosein

Es gibt viele Gründe zu reisen. Gerade sitze ich im Zug von London, wo ich meine Lieblingsnichten (alle meine Nichten sind meine Lieblingsnichten, auch die Nichte, die nicht in London sondern im Münsterland wohnt) umarmt und mit ihnen Vornamen schreiben geübt habe, nach Cardiff, wo ich den Alltagsprinzen zu umarmen gedenke. Dazu, also um jetzt im Zug zu sitzen, habe ich gestern ein Flugzeug bestiegen, welches mich von Hamburg nach London flog. Ein anderes Flugzeug wird mich schon morgen von London wieder zurück nach Hamburg bringen. Verrückt, wenn man bedenkt, dass der Planet dringend weniger klimaschädliches Verhalten braucht, damit wir alle darauf überleben können. Das will ich, unbedingt. Und ich will meine Freunde und Familienmitglieder sehen. Der Alltagsprinz will weiter in seiner internationalen Firma arbeiten, die Riesen-Mikroskope für Universitäten und Firmen in aller Welt in Hamburg entwickelt und in Wales produziert. Ich will auch weiterhin in einer international vernetzten Welt arbeiten und leben. Ich mag das Gefühl mich auch woanders ein bisschen zu Hause zu fühlen. Von Zeit zu Zeit mag ich auch die Aufgergung, die dadurch entsteht, dass ich mich irgendwo kein bisschen zu Hause fühle,

nicht weiß, wie die Dinge funktionieren und es dann doch irgendwie hinbekomme. Zum Beispiel dieses eine Mal im Norden von Äthiopien, als wir morgens um halb fünf ein Taxi zum Busbahnhof genommen haben, mit dem Taxifahrer keine gemeinsame Sprache hatten, wir nicht wussten, ob er uns zum gewünschten Ort fuhr und auch dort lange nicht wussten, wie wir den richtigen Bus finden sollten. Irgendwie hat es trotz nachtschwarzer Dunkelheit doch noch geklappt. Es findet sich immer jemand, der freundlich ist und hilft. Ich habe den Eindruck, dass viele gute Sachen dadurch entstehen. Freundschaften, Verständnis für Fremdheiten, Austausch, all so was. Weniger fliegen wäre trotzdem gut. Ich finde eienfach keine gute Antwort auf das Dilemma.

Außer, naja, die unbefriedigende, dass das Leben zurück pfeffert. Der Flug am Sonntag wurde kurz vorher annulliert. Wir waren gerade auf den Weg nach Windsor um das gleichnamige Schloss zu besichtigen und ein wenig durch das Städtchen zu flanieren. Stattdessen hockten wir erst einmal in einer typisch englischen Kneipe. Die Leute guckten Rugby, tranken Weißwein (die Damen) oder Bier (die Herren), manche aßen ihren Sunday Roast und ich tippte hektisch auf dem Rechner um einen Ersatzflug zu buchen. Alle paar Minuten pingte das Handy mit einer neuen Nachricht meines Bruders mit Tipps, wo noch ein Flug zu finden war. Sollte ich nach Hannover fliegen, um dann mit dem Zug zurück nach Hamburg zu gelangen? Oder gar nach Frankfurt. Ich wurde minütlich nervöser, der nächste Tag war schließlich ein Montag. Am Ende richteten die Meilen meiner Lieblingsschwägerin (alle meine Schwägerinnen sind meine Lieblingsschwägerinnen, auch die, die nicht gerade mit Bonus-Meilen mein Reisedesaster löst), am Ende lösten also ihre Meilen das Reisechaos so, dass ich montags sehr früh zurück nach Hamburg fliegen konnte. Wir fuhren alle also noch mal in London zu Bruder, Schwägerin und den vierjährigen Zwillingen, die schrecklich aufgeregt durch die Wohnung tobten, ob des ungeplanten Extra-Abends. Ich tobte mit den kleinen Flummibällen durch die Wohnung, wir aßen ein eilig herbei gezaubertes Abendessen und nach einer kurzen Nacht brachte mich ein reizender Uber-Fahrer zum Flughafen. Wir hatten ein nettes Gespräch über Geschwister. „Was that your brother?“, fragte er, nachdem ich mich im Morgengrauen verabschiedet hatte. Familenbande, so wichtig, fanden wir. Seine Schwester lebe auch in London, die sehe er sehr oft, überhaupt seien nicht mehr viele Familienmitglieder noch in Pakistan. Seine Eltern auch nicht, die seien aber leider schon tot. „No one laughs as a mother“, sagte er.

Das nächste Wochenende steht vor der Tür und ich bin erst mal erschöpft auf meiner eigenen Couch gecrasht. Halt, nicht ganz, denn abends kommt eine Freundin zu Besuch, im Schlepptau zwei alte gute Freunde aus den USA, wo sie mal zehn Jahre gelebt hat. Es ist etwas kompliziert, ist es nicht?

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