Manche sagen ja, es sei alles schon mal da gewesen. Sinnsuche zum Beispiel, Yoga, Buddhismus und andere östliche Philosophien in westlichen Wohnzimmern. Oder die Sorge um neue Kriege, Angst vor fremden Menschen und Kulturen. Fühlt sich das an wie der aktuelle Zeitgeist? Und trotzdem ist das alles nicht der neue heiße Scheiß des 21. Jahrhunderts. Bei der vorletzten Jahrhundertwende war manches ganz ähnlich. Ende des 19. Jahrhunderts machte sich unter verhältnismäßig Privilegierten eine gewisse Endzeitstimmung verbunden mit intensiver Sinn-Suche breit. Die Wandervogelbewegung, bei der erstmals Frauen und Männer gemeinsam die Konventionen der Wilhelminischen Zeit hinter sich ließen, zog viele an, die Freikörperkultur kam auf. Es gab westliche Anhänger orientalischer Religionen, Erfinder neuer Sinn-Angebote. Und aus der Vielfalt der neuen Angebote entstand auch der Nationalsozialismus mit seinen Anklängen in germanischen Traditionen und pseudoreligiösen Strukturen.
Genug von gestern: Wir stehen im Hier und jetzt im Thalia in der Gaußstraße.
Während wir in der Schlange stehen, hören wir Krach. Umständlich räuspert und hustet jemand im Hintergrund, bevor er lautstark anfängt zu schwadronieren. Weil wir in einem Theater stehen, reagieren wir wie jeder geübte Kunst-Besucher, wir werden leise, schauen hin und hören zu. Hätten wir das auch in der Mönckebergstraße gemacht? Fraglich. Jedenfalls erzählt ein schmaler Typ mit fettigen Haaren und verklemmten Gesichtsausdruck irgendwas von Sorgen und dass sie uns den Schlaf rauben, wir das nicht zulassen sollen und überhaupt Sonne und Kokosmüsse die Lösung seien. Aha.
Dann geht es in den Theaterraum der Gaußstraße. Während wir unsere Plätze suchen, sehen wir eine aus Sand aufgeschüttete Insel in der Mitte des Bühnen-Areals, links daneben ein Haufen Zivilisationsmüll und recht eine piefige Hammnondorgel inklusive Pianisten dahinter, dem zur Seit ein bärtiger alter Erzähler sitzt. Einen Augenblick könnte man meinen, gleich beginnt hier das Weihnachtsmärchen. Der Erzähler Christoph Bantzer führt uns in die Geschichte des Lebensreformers August Engelhardts ein, der um 1900 die Befreiung von allen Sorgen mittels einer strengen Kokosnussdiät erreichen wollte, 1919 mangelernährt und wahnsinnig auf der Südseeinsel Kabakon starb und fast 100 Jahre später in Christian Krachts „Imperium“ zum Romanhelden wurde. Bei Jan Bosse sind die Protagonisten schnieke wahrscheinlich Hockey oder Golf spielende Schnösel aus, sagen wir, Othmarschen. Die pastelligen Poloshirtkragen lässig hochgestellt, bekämpfen sie im Sand Papua-Neuguineas ihre Luxussorgen.
Zunächst ergehen sich die vier Sinnsucher um Frühhippie Daniel Lommatzsch dem süßen Nichtstun unter Sonne, Palmen und Kokosmüssen. Nach und nach kehrt die Langeweile ein bei Marie Löcker, Jörg Pohl, Steffen Siegmund und Sebastian Zimmler. Hemmungen und Kleider fallen, es gibt den ersten Nackten und dann den ersten Toten. Unter größeren Mengen Kunstblut und Sand zerfällt die Hippiekommune im Wahn. In Jan Bosses Geschichte taucht der Urhippie Engelhardt nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal auf einer US-Militärbasis auf, wo er, der Vegetarier, mit Burger, Fritten und Co aufgepäppelt wird.
Parallelen zu heute? Diese Frage, liebe Zuschauer, überlassen Autor Christian Kracht und Regisseur Jan Bosse uns.
Wieder im Foyer sammelt einer der Schauspieler für das Flüchtlingsprojekt des Thalia Theaters, wir spenden und diskutieren den Rest des Abends die aktuelle Weltpolitik. So macht Theater Spaß.