Heimat sei ein unordentliches Gefühl, schreibt Ronja, die bestimmt wegen der hübschen Alliteration von ihren Eltern, Frau und Herrn von Rönne so genannt wurde. Vielleicht, aber für mich auch ein schönes Gefühl, eben eines, in dem viele verschiedene Ober-, Neben- und Untertöne mitschwingen. Ich müsste nicht mehr in der kleinen Stadt leben, wo man samstags auf dem Weg zum Wochenmarkt eine erkleckliche Zahl Menschen trifft, die man namentlich grüßt und nach dem Einkauf immer in dasselbe Café geht um mit den immer selben Freunden Sozialkunde zu betreiben.
Das hört sich jetzt enger an, als es ist. So schrecklich andere Sachen mache ich in Hamburg auch nicht. Ich wähle die wiederkehrenden Orte eventuell mit etwas mehr Bedacht aus, sonst könnte ich in der großen Stadt nicht die immer selben Freunde treffen und mit diesen großstädtischen Freunden Bürgerkunde* betreiben. Ich muss auch nicht mehr jeden Tag an der Schule vorbei gehen, auf der schon mein Vater und mein Großvater und schließlich auch meine Brüder und ich … Es reicht völlig, wenn das nur so manchmal passiert. Auch Stefan, den ich in der achten so toll fand, muss ich nicht mehr ständig sehen. (Gut, ich würde ihn halt auch nicht wieder erkennen.)
Gerade deshalb müssen Weihnachten bestimmte Dinge verlässlich gleich ablaufen, der Baum muss in derselben Ecke stehen, wie schon immer, die Kerzen müssen rot sein, lediglich die Nuance darf variieren, es muss extra leckeres Essen geben und einen Haufen hübsch verpackter Geschenke. Wir trinken leckeren Wein, naschen Plätzchen, obwohl wir mehrgängig gegessen haben, vielleicht spielen wir ein wenig Musik oder ein Gesellschaftsspiel, vielleicht gehen wir in die Kirche. Lauter kleine und große „Muss“, die sich nicht wie müssen anfühlen sondern wie „das gehört so“. Spätestens am ersten Weihnachtstag müssen wir dringend spazieren gehen, das viele Essen muss schließlich verstoffwechselt werden. In all den Ritualen stecken Erinnerungen, die ich gemeinsam mit Menschen, die mir lieb sind, geschaffen habe. Zum Glück habe ich viele solche Erinnerungen gemeinsam mit meinen Geschwistern, meiner Mutter und Freunden, mit Anverwandten aller Art.
Ich habe doch mal von Arvid erzählt, dem Jungen, der alleine als Kind aus Afghanisthan bis nach Deutschland gekommen ist? Ich glaube fast, dass was ich an Arvids Geschichte am beunruhigendsten finde**, ist der Umstand, dass er für seine Vergangenheit keine Zeitzeugen mehr hat. Niemand, der sich mit ihm an dieses oder jenes Fest erinnert, den Winteranfang oder den ersten Schultag.
Genau das tut Weihnachten für mich: Eine Brücke zwischen früher, jetzt und morgen bauen mit der Vergewisserung verlässlicher Zeitzeugen. Weihnachten braucht es für meinen Geschmack Variationen nur in homöopathischen Dosen. Eine kleine Veränderung im jährlich wiederkehrenden Ablauf vielleicht, ein neues Gesicht, das von nun an immer mitfeiert (Hallo Lieblingsneffe, Du bist gemeint.), eine neue Geschenk-Idee oder einen neuen Kerzen tragenden Engel, solche Kleinigkeiten. Zum Beispiel diese selbstgemachte Schokolade wäre ein hübsches Geschenk oder Nudeln in jahresendzeitlicher Tannenbaumform. Doch, das könnte man mal machen.
Genießen Sie das kommende Wochenende.
** Und das obwohl Arvid auf seinem langen Fluchtweg als 16-Jähriger sicher genug schreckliche Dinge erlebt hat. Die Zeit im Gefängnis in Griechenland etwa oder die davor, als auf dem Bau im Iran gearbeitet hat. Und die Gründe ganz alleine so weit weg zu gehen, waren sicherlich auch nicht nur lustig.