Spazieren gehen

„Die Sonne scheint.“ Immer ein guter Gesprächsanfang. Noch besser funktioniert zur Zeit nur Corona als kleines Gesprächsthema zum Einstieg.

„Schaffen Sie es, Ihre Masken nach jedem Tragen zu waschen?“, können Sie zum Beispiel zur Begrüßung fragen. Spoiler: Müssen Sie gar nicht, den Backofen auf 80 Grad stellen und die Dinger eine halbe Stunde drin lassen, tut es auch. Hätte ich den beiden Damen auf der Mitte des Bürgersteigs bei uns im Viertel neulich mal sagen können. Tss, habe ich aber nicht wegen akuter Unlust. Am Ende hätte ich ein längeres Gespräch an der Backe gehabt und ich wollte in dem Moment einfach bloß meine Ruhe haben, was im bevölkerten Bahnhofsviertel eher nicht so das Konzept ist, Corona hin oder her. Ich wich also auf die Straße aus, dachte über die Überbevölkerung im Allgemeinen sowie in kleinen Bahnhofsvierteln im Besonderen nach, ärgerte mich noch ein wenig und spazierte dann meiner Wege.

Abendlicher Auslauf

Überhaupt scheinen Spaziergänge gerade das Ding zu sein. Dieses ganze Zu-Hause-Ding löst bei mir einen starken Bewegungsdrang aus. Ärgerlicherweise sind die meisten Sportarten nach wie vor nicht erlaubt. Und immer nur Yoga zu Hause ist irgendwie auch nicht die Lösung. Also Spaziergänge. Der Vater eines guten Freundes machte das früher viel. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt flanierte er durch die Stadt. Ab und an blieb er stehen, betrachtete die Auslagen eines kleinen Geschäftes, manchmal plauderte er ein paar leise Sätze mit einem Unbekannten, manchmal traf er auch eine Bekannte und besprach mit ihr ein paar Takte die Welt. Nie lange, dann ging er seiner Wege. Es war nicht so, dass er nix zu tun gehabt hätte. Er war Inhaber eines Architekturbüros, Vater, Ehemann, bloß so richtige Hobbies mit Namen hatte er eben nicht. Als Vierzehnjährige fand ich das ein bisschen komisch. Ich hatte Klavierunterricht, ging reiten, traf Freunde. Spazieren gehen schien mir ein angemessener Zeitvertreib. Seit Corona den Alltag an den Ecken ausfranzt, weil wir zwar immer noch Aufgaben und Arbeit haben, aber keine richtigen Gelegenheiten Freunde zu treffen oder zum Sport zu gehen, finde ich Spaziergänge als Hobby für den Übergang zwischen Arbeiten (zu Hause) und abendlichem Ausruhen (auch zu Hause) irgendwie gut. Am besten funktioniert es abends in Wohnvierteln mit nur mäßigem Angebot an Einzelhandel. Erstens möchte ich eh nicht so gerne ein Geschäft betreten, in dem ich dann die Gesichtsmaske aufsetzen muss, zweitens finde ich Online-Handel zunehmend praktischer. Wenn ich ehrlich bin, war das schon vor der Pandemie so.

In der Stadt

Und schon vor der Pandemie hatten die Innenstädte zunehmend Probleme. In Hamburg zwischen Mönckebergstraße, Jungfernstieg und Neuem Wall war es vielleicht noch nicht so sichtbar, in meiner Provinz aber schon. Leerstehende Geschäfte und ziemlich viel Ruhe in den noch offenen Geschäften. Das ist in der Heimat des Alltagsprinzen so, das erzählen eigentlich alle meine Freunde aus ihren ländlichen Heimat-Regionen. Und wenn man‘s mal bedenkt: Ist es die kürzeste Zeit in unserer Geschichte so gewesen, dass die Innenstadt als sozialer Marktplatz funktioniert hat. Das hat es gut einhundert Jahre gegeben. Natürlich gab es auch früher Geschäfte, Handwerker boten ihre Dienste an, Waren wie Bücher, Möbel oder Schmuck wurden auch schon früher gehandelt. Aber nicht so, dass die Innenstadt mit ihrem Warenangebot als sozialer Treffpunkt diente, wo man sich ohne Verabredung begegnen konnte. Muss man aber vielleicht auch nicht. Bloß weil wir das jetzt eine recht lange Zeit so gemacht haben, muss es ja nicht ewig so weiter gehen. Vielleicht brauchen kleine Städte und Dörfer Treffpunkte anderer Art, eine große öffentliche Bibliothek zum Beispiel, die gleichzeitig auch Café, Veranstaltungsort und freie W-Lan-Zone ist. Einen Ort, wo nicht nur jede Schülerin mal vorbei schaut, wenn sie gerade ein Referat vorbereiten muss, sondern auch die Jungs von der Gitarren-AG. Vielleicht muss es eine städtische Eck-Kneipe geben, wo der Jazz-Club gelegentlich zum Konzert einlädt und ein Café gleich nebenan, in dem die Senioren ihren sonntäglichen Kaffeeklatsch haben und die jungen Eltern ihre PEKIP-Treffen. Vielleicht braucht es kein Modehaus Becker und keine Boutique „En Vogue“ um sich über den Weg zu laufen. Im Moment, so scheint es mir auf meinen abendlichen Spaziergängen, geht‘s ja auch ganz gut ohne diese Läden. Ich treffe die Leute jetzt in der Schlange vor dem Blumenladen, auf dem Wochenmarkt oder an der improvisierten Theke der Bar, die bei uns im Viertel Cocktails und Flaschenbier mit Mindestabstand verkauft. Wie so’ne Flaneuse in der Stadt.

Schreibe einen Kommentar