Das Jahr ist nicht mehr ganz jung, was eigentlich ganz gut zu mir passt. Ich bin das auch nicht mehr. Und bekomme ähnlich wenig organisiert. Irgendwie läuft das Jahr so vor und ich hetze hinterher. Egal, dann ist das jetzt eben erst einmal so. Ich feiere die Sachen, die laufen und bei den Anderen tue ich einfach, als müsste das so. Was? Schon Februar? Jetzt erst die erste Post des neuen Jahres, egal, das gehört zufällig so. Was wollte ich denn eigentlich gerade? Ach ja…
Früher in der Schule war es ein ganz bewährtes Mittel mir die Lust am Lesen zu nehmen (Und ich habe wirklich gerne und viel gelesen): Wenn wir im Deutsch-Unterricht ein Buch lesen sollten und es dazu einen Leseplan gab, bis zu welcher Woche man welches Kapitel „geschafft“ haben sollte. Dann hatte ich schlagartig keine Lust mehr. Zum Glück hat es mir nicht gänzlich die Lust am Lesen nehmen können, später habe ich unter anderem Germanistik studiert und bin eifrig lesende und schreibende Journalistin geworden. Jedenfalls begegnete mir neulich in diesem Internet Marias Lesekreis. Und da wollten sie gemeinsam Effingers von Gabriele Tergit lesen. Von der Autorin hatte ich neulich schon (also vermutlich vor zwei Jahren) „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ gelesen und die unaufgeregte Detailverliebtheit gemocht. („Sie hängte den Telefonhörer an.“) Diese Kleinigkeiten, die einen so nebenbei ins Berlin der späten Zwanziger Jahre mitnehmen, ohne die Geschichte davon auszubremsen. Die trabt trotzdem schnell und ungestüm mit dem Erfolg des Künstlers nach oben und dann rasch wieder runter. Ohne (mindestens genauso wichtig) zu schreien: Schau, wir sind in den Zwanzigern, siehst du das? Klassenkämpfe, Charlestonkleider , Bubiköpfe, rechte Schlägertrupps und „Hast du schon das arme jüdische Mädchen da hinten entdeckt?, die wird ein fürchterliches Schicksal haben. So waren die Zwanziger, nach allem, was wir wissen, ja auch gar nicht. Natürlich gab es junge Frauen, die sich die Haare abschnitten, aber es gab halt auch viele, die das nicht taten. Überhaupt gibt es zu jeder Zeit immer viel Ungleichzeitiges im Gleichzeitigen, Sachen, die schon immer so gewesen waren und erst mal so bleiben sollten. Nicht jeder wollte schließlich in die neue Zeit stürmen. Nicht jede wollte und konnte eine neue Sexualmoral ausprobieren. Meine Oma, ein armes Bauernmädchen mit neun Geschwistern aus dem Rheinland hat sich die Frage ganz sicher nicht gestellt. Mein Patenonkel, angehender Frauenarzt in Berlin, hat sich die Frage auch nicht gestellt. Denn für ihn und seine damaligen Freundin und spätere Ehefrau war bei den Kellerpartys der Medizinstudenten in der Charité klar, dass das jetzt die neue Zeit ist. Außerdem – egal ob in Berlin oder auf dem Land, egal ob heute oder früher: Man weiß nie, wie der nächste Tag werden wird. Die Zukunft war schon immer unbekannt. Ärgerlicherweise legen viel zu viele Bücher und Filme das Gegenteil nahe.
Nicht so Frau Tergit in ihrer Literatur. Davon wollte ich ja eigentlich erzählen, ich habe angefangen ihre Effingers zu lesen. Es ist ein ziegelstein-dickes Buch. (Ich musste unbedingt die Backstein-Variante haben. In anderen Medien lese ich schließlich schon genug.) Und nun lese ich begeistert von Frau Effinger, die im Erker sitzt und Hefeteig rührt, während sie überlegt, wie wenig mit 20.000 als Mitgift für Bertha auszurichten ist. Ich lese von ihrem Sohn Paul, der die neue Zeit in seinen kleinen Heimatort bringen will, aber seine adlige Hoheit möchte sich die Aussicht nicht mit einer Fabrik verschandeln. Also doch Berlin, da gibt es schon Hinterhof-Fabriken, da könnte er vielleicht was werden. Ich bin auf Seite 152 und schon jetzt finde ich es super, dass bis Seite 899 noch eine ganze Weile hin ist. Jetzt muss darf ich bloß aufpassen, dass ich mit meinen Mitleser:innen Schritt halte, damit ich mich immer passend zum Lese-Erlebnis der Woche auf Instagram über Kassendefraudanten, Lindengeblüh und Schraubenfabriken freuen kann. Ich werde wohl in den nächsten Wochen etwas weniger Zeit für all die Schnipselnachrichten im Internet haben.
Und wenn ich dann mal wieder Zeit habe, was gerade nicht so realistisch ist, dann erdenke ich all die weiteren Projekte des noch jungen Jahres. Reisen (Südtirol, Georgien), ein neues Zimmer einrichten. Ach so allerlei, dazu bei Gelegenheit mehr.
Menschen in Café, ja vielleicht ist es genau das, was ich nach der Pandemie gerne wieder mehr und selbstverständlicher hätte. Aber das wird, bestimmt. Und dann wird es so sein, wie bei jeder Krankheit. Wann sie angefangen hat, kann man meistens ziemlich gut sagen, ab wann es einem wieder „normal gut“ geht, ist schon schwieriger zu bestimmen.