Recht und Gerechtigkeit sind nicht dasselbe. Weiß ich, das weiß jeder. Aber wie grotesk und brutal sich das einfühlt,
wissen wir meistens nicht. Im Alltag plätschert das Leben oft so dahin. Ein paar Ungerechtigkeiten hie und da. Es gewinnt nicht der Beste, sondern der, der die Fäden im Hintergrund zieht. Oder es kommt mal einer mit einer kleinen Schweinerei durch. Selten geht es um Leben oder Tod, Freiheit oder Gefangenschaft. Die Extreme scheinen nicht in das normale Leben zu passen. Was nicht heißt, dass es sie nicht gibt. Ferdinand von Schirach gelingen Sätze, die das einfangen. Ich spüre das Böse, die Ungerechtigkeit beim Lesen schon, bevor es ausdrücklich da steht. „ Es waren ganz normale Männer und niemand hätte geglaubt, dass so etwas passieren würde.“ Und: „Der Erste streckte die Hand nach ihr aus und alles begann.“ Wenige Sätze nur. Trotzdem tut die Beschreibung einer Massenvergewaltigung körperlich weh. So richtig gruselig wird es, wenn von Schirach in wenigen kargen Sätzen die Hilflosigkeit des Rechtsstaates beschreibt: „Die Polizei kam zu spät. Sie glaubten dem Mann nicht, der aus der Telefonzelle angerufen hatte.“ Und: „Verteidigung ist Kampf, Kampf um die Rechte des Beschuldigten.“ Dass niemand für die Rechte des jungen Mädchens kämpft. Einer 17-jährigen Schülerin, die von den Mitgliedern einer Blaskapelle hinter der Bühne vergewaltigt wird. Das steht nicht in dieser ersten Geschichte „Volksfest“.
Ferdinand von Schirach arbeitet als Strafverteidiger in Berlin. Seine Stories, wie er den Band Schuld im Untertitel nennt, beruhen auf Fällen aus seiner Praxis. Das und die Tatsache, dass längst nicht alle versöhnlich enden, lässt einen so verstört zurück. Es gibt eben doch nicht immer einen Kommissar, der die Wahrheit herausfindet und alles wieder in Ordnung bringt.
Lesen Sie das, wenn Sie mal wieder ein bisschen Angst vor dem Leben brauchen. Die Geschichten sind großartig.
P.S. Oder schauen Sie hin.