Ich bin ein schrecklich oberflächlicher Mensch. Dochdoch, daran kann auch nicht all das pseudoschlaue Geschreibsel über Bücher, Theater, Design und andere Kultur hinweg täuschen. Markus Flohrs Roman Alte Sachen habe ich gekauft, weil ich den Textil-Einband so schön fand. Rot-weiße Streifen im Zickzack, das weiß ein bisschen nachgedunkelt. Es lässt mich an einen kleinen, altmodischen Zirkus denken, oder nein: an einen Puppen-Zirkus, der irgendwo auf dem Speicher zwischen altem Spielzeug und Krams überwintert hat.
Buch-Tipp: Alte Sachen
Um alte Sachen geht es dann erst einmal gar nicht. In einem Epilog lese ich, wie zwei Tote im Wald verscharrt werden. Bomben schlagen in der Ferne ein, Sirenen heulen. Und dann bin ich im Hier und Jetzt. Rieke hat das Abi geschafft, ihre Freundin Iza auch. Und nun haben beide erst mal keinen Plan, jedenfalls keinen großen, der nach sofortiger Umsetzung verlangt. Kein Work & Travel in Australien, keinen Semesteranfang in einer kleinen Universitätsstadt irgendwo in Süddeutschland. Abhängen, Streifzüge durch so viele Clubs, wie Berlin zu bieten hat, Klamotten tauschen, vielleicht ein Fotografiestudium beginnen. Das wird man später sehen. Irgendwo in diesen endlosen Tagen begegnet Rieke Lior. Der betreibt eine kleine Schneiderei, mehr Änderungen als hippe Mode, obwohl das mal der Plan war, als er von Israel nach Berlin gekommen ist. Deshalb müsste er eigentlich wissen, dass eine Motte nix zwischen alten und neuen Kleidern zu suchen hat. Denkt Rieke eines frühen Morgens, als ihr die Motte in Liors Schaufenster auffällt. Rieke ist vom anderen Ende der Nacht unterwegs und vielleicht nicht so ganz bei sich. Trotzdem: „Es gab keinen Zweifel: Auf dem Hemd im Schaufenster des Schneiders saß eine Motte. (…) Sie nahm die Flasche mit der Matebrause, sah auf die Motte und schlug mit der Flasche sanft gegen die Scheibe. Husch, husch! Jedenfalls war es Riekes Absicht gewesen, sanft vorzugehen, mit der Flasche. Pling, pling, husch, husch. Aber es klirrte.“ So reißt sie Lior aus dem Schlaf, der in seinem Feinripp-Unterhemd unheimlich gut aussieht und über die kaputte Fensterscheibe erstaunlich unbesorgt ist. Statt sich aufzuregen, bietet Lior ihr seine Dusche an, kocht Gewürzkaffee, lässt Rieke ausschlafen. Lior regt sich auch nicht über seine total kaputte, alte Fliegerjacke auf, die er immer trägt, obwohl sie ihm fast in Fetzen vom Leib fällt. Rieke gefällt das irgendwie. Trotzdem kommt ihr mit der Zeit so manches spanisch vor, so sehr, dass sie anfängt nachzuforschen.
Als alt noch neu war
Otto ist noch jünger als Rieke. Gerade 13 Jahre alt ist er, als einige Jungs in seiner Klasse anfangen Braunhemden zu tragen. Anders als sein Freund Ralf will Otto nicht bei der Hitlerjugend mitmachen. Es passt auch eh nicht so gut. Otto wird mit seiner Mutter umziehen, denn die hat eine neue Stelle bei „Mäntel Rettig“. Der Inhaber ist verwitwet und kann weibliche Unterstützung im Geschäft gebrauchen. Meister Rettig schneidert sogar für echte Filmstars wie die Fliegerjacke, die Helmut Graf im Film trägt. Leider wird die Jacke aus dem Schaufenster geklaut und weder Rettig noch seine Kinder Selma und Niels noch Ottos Mutter trauen sich die Polizei zu rufen. Niels soll eine neue Jacke fürs Schaufenster nähen, Otto, so ungeschickt er auch noch ist, darf ihm dabei helfen. Auch in Ottos Leben wird so einiges im Laufe der Zeit immer komischer. Aber so sehr er auch versucht, die Dinge zu verstehen und die richtigen Entscheidungen zu treffen. Oft kann man nix machen, jedenfalls nix Großes.
In vielen, kleinen Details folge ich als Leser Otto, seiner Mutter, ihren jüdischen Arbeitgebern und Vermietern durch das Berlin der Dreißiger und Vierziger Jahre. Viele Jahre später folge ich dem Leben der Abiturientin Rieke, ihre Freundin Iza, Lior, seinem besten Freund durch das Berlin des neuen Jahrtausends. Dass es manchmal dieselben Orte und dieselben Sachen sind, merke ich lange nicht. Zu gründlich hat sich Berlin verändert, zu konsequent wurden unliebsame Erinnerungen abgestreift.
Roman Kritik
Mit seiner Art zu erzählen braucht Markus Flohr Zeit. Viel Zeit bis die Geschichte Fahrt aufnimmt. Ich mag das. Auch weil es mich glaubwürdig in andere Zeiten und andere Lebenswelten mitnimmt. Sowohl das Berlin von heute als das von gestern entdeckt der Leser durch die Augen von jungen Menschen, die vieles unbedarft zur Kenntnis nehmen. So kommt Flohr ohne die gängigen Klischees aus und kann mir die unglaubliche Geschichte der Judenverfolgung neu und bedrängend erzählen: Vom ängstlichen Ausweichen, Verstecken, Flucht und Neuanfang … und davon, wieviel und wie wenig das alles mit uns heute zu tun hat.
Wenn Sie Zeit haben, 489 Seiten Zeit um genau zu sein: Lesen Sie das ist. Das ist gut.