Neulich, sonntags am späten Nachmittag, fielen doch tatsächlich die ersten Schneeflocken. So wie unsere meine Zeiten heutzutage sind, erreicht mich als erstes ein Foto, das den Lieblingsneffen beim Entdecken seines allerersten Schnees zeigte. Da war hier in Hamburg noch keine einzige Flocke zu entdecken.
Schade, dass sie alle schon wieder verschwunden sind und wahrscheinlich wird uns auch bis Weihnachten kein stilles Weiß umarmen.* Das sagt einem ja auch keiner, dass die Erderhitzung auch eher so niedliche Folgen hat, wie warme statt weiße Weihnachten. Immerhin schleicht sich so langsam die Erkenntnis ein, dass verniedlichende Begriffliche nicht helfen.
Muss ich also wieder persönlich adventliche Stimmung schaffen. Seit Tagen brennen die Kerzen auf dem Adventskranz eifrig gegen das graue Dunkel vorm Fenster. Vor ein paar Wochen begegnete mir zufällig die Geschichte von der Erfindung des Adventskranz in seiner heutigen Form: 24 Kerzen, vier weiße und neunzehn rote** befestigte Herr Wichern 1893 im rauen Haus hier in Hamburg um jeden Wochen- und jeden Sonntag bis zum Heiligen Abend zu feiern. Kurz war ich doch glatt in Versuchung im Wohnzimmer so ein Riesending nach zu bauen.
Seit ein paar Tagen begegnen mir überall im Internet Klagen über die unsaubere Arbeitsweise des Herrn R., der ein wenig zu viel dazu gedichtet, erfunden und ja auch: richtig gelogen habe. Das ist nicht in Ordnung, keine Frage. Aber es passt auch zu Gepflogenheiten, mit denen ich selbst beim Schreiben, Redigieren und Abnehmen-Lassen aller Arten von Artikeln für Zeitschriften zu tun hatte. Ich habe meine Interviewpartnerinnen und Gesprächspartner immer vorgewarnt, dass ein Text, der über jemanden geschrieben wird, wie ein Foto die Sicht des Schreibers einfängt und dass es darum sein kann, dass die betrachtete Person sich nicht gut getroffen findet. Das komme beim Familienbild zu Weihnachten schließlich auch vor. (Gucke ich wirklich immer so betroffen in die Welt? So ein Doppelkinn habe ich doch gar nicht. Oder ist das bloß der vom Fotografen gewählte Ausschnitt?) Das war die Wahrheit, wenigstens teilweise. Was ich meinen Gesprächspartnern meist nicht ausdrücklich erzählt habe, wieviele Menschen an einem Zeitschriften-Artikel mitarbeiten, ihn kürzen, umstellen, verdichten und bevor sie das tun, fordern, dass der Text unterhaltsam, präzise, knapp (nicht kurz ) sein solle, auf eine Aussage zulaufen müsse. In all diesen Anforderungen an einen guten Zeitschriftentext liegt schon immer die einengende, zuspitzende Perspektive, die zwingend bedeutet, dass alles, was nicht ins Bild passt, eben nicht erzählt wird.
Einige Formate sind mehr oder weniger klar auf Täuschung der Leserinnen angelegt: Kein Interview erscheint exakt so, wie es gesprochen wurde. Das machen sich die meisten Leser nur nicht bewusst. Auffälliger ist es bei Formaten, wo Protagonisten in der Ich-Form schreiben, da taucht die eigentliche Autorin oft ganz winzig rechts am Rand von unten nach oben geschrieben auf: Aufgezeichnet von…“. Als das erste Mal ein Text „aufgezeichnet von mir“ erschien, wollte meine Mama erst gar nicht glauben, dass das der ganze „Beweis“ meiner Arbeit an dem Text sei.
Als Schülerin habe ich Zeitschriften geliebt, vom Taschengeld gekauft, der wunderbaren Dorothee abgequatscht, kiloweise habe ich sie aufgehoben, immer wieder in ihnen gelesen. Aus alten Zeitschriften habe ich Couchtische gestapelt, Glasplatte oben drauf, zack fertig. Zeitschriften waren meine bunten Fenster in die Welt. Als Studentin bin ich sonntags oft in die Bahnhofsbuchhandlung geradelt und habe in ausländischen Zeitschriften geblättert. Als ich dann selbst schreiben durfte, fand ich es aufregend und schrieb mein leises Unbehagen meiner Unprofessionalität zu.
Vielleicht ist und war es genau dieses Unbehagen, welches die Glätte in mir auslöst. Seit es das Internet mit seinen vielen Erzählformen gibt, bin ich als Leserin immer mehr dorthin abgewandert. Als Autorin auch. Denn eigentlich ist das Leben auch ohne Verdichtung aufregend, will mir scheinen. Online als neue Vertriebsform schützt natürlich erst einmal nicht vor unsauberem Arbeiten, vor erfundenen Gesprächspartnern und anderen Lügen, schon klar. Und auch die Medienproduzentinnen, Podcaster, Schreiber im Internet sind nicht davor gefeit, kleine und große Gefälligkeiten anzunehmen und hinterher so zu schreiben, als basiere alles auf ihrem unbeeinflussten Urteil. Aber die Skandale und Diskussionen dort treiben alle vor sich her. Und das ist nicht nur schlecht.
Als Reisereporterin für die Zeitschrift habe ich selbstverständlich nie Reisekosten aus eigener Tasche bezahlt und mein Verlag hat das auch nur ganz ausnahmsweise übernommen. Die Verlage aller anderen Journalisten aus allen bekannten Verlagshäusern, die mir auf diesen Recherchereisen begegnet sind, aber auch nicht. Nein, solche Reisen geschahen stets auf Einladung großer Fluggesellschaften, Hotelketten, Tourismusfördergesellschaften, Autokonzernen, denken Sie ein bisschen nach, dann fallen ihnen sicherlich noch ein paar Akteure ein, die ein Interesse daran haben, dass Journalisten ihre Produkte und Dienstleistungen in Augenschein nehmen. Es stimmt, ich war nie verpflichtet, ein Produkt gut zu finden. Aber seien wir mal ehrlich, an einem Fünf-Sterne-Plus-Hotel mit einer Suite doppelt so groß wie meine gesamte Wohnung zu der Zeit ist auch nichts schlecht Das ist alles so aufwändig, so edel, so schön, das kann man nur toll finden. Das einzig Negative wäre vielleicht der Preis, nur den bemerken wir Journalisten in der Regel gar nicht. Diese Form der Verblendung ist den ersten Bloggerinnen und Social Influencern im Netz dann auch unterlaufen. Seitdem hat es einen (kleinen) Aufschrei gegeben und seitdem weisen auch manche Zeitungen und Zeitschriften aus, wenn die Reise des Journalisten von einer dritten Partei gesponsert wurde.*** Dass alle im Netz neuerdings reflexhaft alles als Werbung ausweisen müssen, was nicht selbst geklöppelt wurde, egal ob bezahlte Auftragsnennung oder nicht, dient eher der Desinformation, will mir scheinen.
Zurück zum Internet. Gerade wurden die Nominierten für den Goldenen Blogger veröffentlicht. Auch dieses Mal habe ich neue tolle und ziemlich unterschiedliche Text-Welten entdeckt. Sterben üben der Journalistin und Autorin Jamin Schreiber (manche Menschen werden wohl einfach, was ihnen ihr Name vorgibt). In ihrem Blog erzählt sie Geschichten von Menschen, die sie auf ihrem letzten Weg begleitet. Oder The Skinny and the Curvy one ein Lifestyleblog zweier junger Frauen. Bei Sophia Faßnacht und Verena Prechtl geht es ums Anziehen, Wohnen, Verreisen – alles in der hübschen, schick gemachten aufgeräumten Variante. Dadurch dass die Beiden aber recht unterschiedlich sind, hat das was. Not just down ist im Rahmen der Masterarbeit von Tabea Mewes entstanden und nimmt uns Leser mit zu Menschen, die das Downsyndrom haben
Lassen Sie uns das Internet leer lesen.
** Die Anzahl der roten Kerzen schwankt von Jahr zu Jahr, je nachdem wieviele Tage vor dem 24. Dezember der erste Adventssonntag liegt.
*** Interessanterweise konnte ich bei einer ersten schnellen Recherche allerdings keinen Beitrag mit einem solchen Hinweis finden. Entweder nimmt niemand mehr das Sponsoring dritter Parteien an oder ich bin nur gerade zu doof zum recherchieren.