Rollenspiele

Die kommenden Stunden werde ich eine Frau sein, die ebenso blond wie handfest ist. Ihre Haare wellen sich in einem sanften Bob um den Kopf, den Kragen ihrer Feldbluse hat sie adrett hochgestellt. Dr. Helena Töpfer hat als Archäologin schon Ausgrabungen im Tal der Könige geleitet, auch wenn die Männer im Ausgrabungsteam ihre Erfolge gerne unter den Tisch ins Grab fallen lassen. Wir befinden uns schließlich in den Zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Frauen mit Karrieren waren da noch nicht vorgesehen. Immer wieder

wird sich Major Harry Poole retterhaft vor sie stellen, sobald sich eine Gefahr andeutet. Immer wieder werde ich den eleganten Hals recken müssen um trotzdem etwas erspähen zu können. Schließlich sind geheimnisvolle Mumien eher mein Feld. Ich kann mich unmöglich von dem arroganten Soldaten Poole abhalten lassen, das Rätsel um eine untriebige Leiche zu lösen, möglichst bevor wir mit unserem Atlantikdampfer New York erreichen.

Der Alltagsprinz und ich verbringen das Wochenende auf Burg Stahleck, oberhalb des Rheinweilers Bacharach. Seit dreißig Jahren finden hier schon Rollenspiel Conventions statt. Für mich ist es das erste Mal. Die meisten Mitspieler aber tauchen auf der Burg, die in eben jenen Zwanziger Jahren als Ort für die Deutsche Jugend umgebaut wurde, jedes Jahr in andere Identitäten. Heute wird von einem Aufenthalt auf der Burg zwar niemand mehr ein strammer Nazi, aber Hexe, eifriger Beschwörer, Polizist, Wissenschaftlerin oder gutgläubige Mitläuferin kann man hier für ein paar Tage schon werden.

Das Internet hat diese Welt der angenommenen, gedachten, erfühlten Identitäten größer und schöner gemacht. Geschichten werden miteinander vernetzt, weiter gesponnen, verändern manchmal Charakter und Farbe beim Wandern zwischen den Welten und Identitäten. Oft ist nicht ganz klar, was wahr und was angenommen ist. Manchen Geschichten nützt das. „Krieg der Welten“, Orson Welles‘ Hörspiel, das 1938 ein New Yorker Radiosender als Reportage ausgestrahlt hatte, ist so ein Fall. Auch wenn insgesamt vier Mal den Hinweis ausgestrahlt worden war, es handele sich um Fiktion. Das Format der Reportage passte soviel besser zur Nachricht, Marsianer wären dabei die Straßen New Yorks zu erobern, das viele das nicht hören wollten. Und auch wenn das Programm nur eine Einschaltquote von zwei Prozent gehabt hatte, konnte sich die Mähr von der Massenpanik, welche die „Reportage“ im Radio ausgelöst hatte, hartnäckig halten. Das wiederum passte den Zeitungen schlicht zu gut ins Konzept, die die Konkurrenz des neuen Mediums fürchteten.

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob wir das Mitfühlen zum Mitdenken nicht auch brauchen. Trockenes Analysieren von Proviantlisten mittelalterlicher Klöster hilft mir als Historikerin mir ein Bild von einer vergangenen Epoche zu erschließen. Aber erst wenn ich nachfühle, wie oft und wieviel Hunger ein einfacher Bauer gehabt haben muss angesichts magerer Ernte-Erträge, ungenügender Lagermöglichkeiten und der Verpflichtung den Zehnten ans Kloster abzugeben. Erst wenn mir bewusst wird, dass einer Magd die Uhrzeit schlicht egal war, es so gut wie keine Notwendigkeit gab zur Sonnenuhr auf dem Dorfplatz zu laufen, weil ihre Dienstanweisung „Bei Sonnenaufgang musst du die Kühe melken.“ lautete oder „Bei Sonnenuntergang treffen wir uns am Brunnen“ die tägliche Verabredung zum Wasserholen war, kann ich mir ein umfassendes Bild der vergangenen Zeit machen.

Sechs Millionen zum Beispiel sind kein umfassendes Bild. Ich brauche andere Dinge um Verständnis zu entwickeln. Moderne Museen wie Yad Vashem oder das deutsche Holocaust Mahnmal haben kluge Strategien entwickelt, aus der Masse einzelne echte Menschen hervorzuholen. Menschen, die eine Vergangenheit gehabt hatten, Familien, Freunde und natürlich echte Gefühle: Angst zum Beispiel, die jener Mann gefühlt haben muss, als er auf Knien das Kopfsteinpflaster seiner Heimatstadt mit einer Zahnbürste reinigen musste, gezwungen von einer Horde Menschen, die um ihn herum standen. Oder die sorgfältige Vorfreude, mit der ein kleines Gedichtbändchen von Erich Kästner im Warschauer Ghetto zu einer ganzen Bibkiothek wurde. Erst wenn ich das sehe, wenn die Geschichte wieder Geschichten bekommt, kann sie verständlich werden. Nicht zufällig steckt Geschichte in Geschichte.

Ich bin mir sicher, trockenes Quellenstudium und den wissenschaftlichen Ethos bei den Fakten zu bleiben, brauchen wir beim historischen Geschichtenerzählen unbedingt. Alles Andere macht sich lustig über die Menschen, die vor uns gelebt haben. Ganz egal, ob sie Opfer waren, wie der Herr mit der Zahnbürste, hart arbeitende Landarbeiter wie die Magd oder ein Junge, der trotz des Ghettos um ihn herum vor allem verliebt war in Teofila und die Literatur (und der später ein berühmter Literaturkritiker werden sollte).

Anders als all die schlauen Leser von Mademoiselle Readon, die schon immer irgendwie geahnt haben, da könne etwas nicht ganz koscher sein, diese oder jene Geschichte habe zu sehr nach Moralin gerochen. Und überhaupt sich fragten, warum sollen denn zwei Jüdinnen aus Israel zurück nach Europa emigrieren? Das bisschen wüstentrockene Hitze müsse doch wohl besser zu ertragen sein, als lauter ehemalige Nachbarn und Bekannte, die entweder selbst Nazis gewesen seien oder doch gemeinsam Sache mit den Nazis gemacht hatten. Auch mir hat nicht jede Geschichte gefallen. Besonders nicht jene, in welcher „der Deutsche“ vor 80 Jahren immerzu ganz fiese Sachen gemacht und doofe Dinge einfach so unterstellt hatte. Ich habe eine Weile gebraucht, bis mir klar geworden ist, dass gegen ein holzschnitzartiges Vorurteil niemand etwas sagen kann. Dass damit aber auch niemand gemeint sein kann, weil es vor 80 Jahren in Deutschland zwar Deutsche gegeben hat, jede Menge sogar, lauter einzelne Menschen, aber wahrscheinlich nicht „den Deutschen“, der nach dem immer gleichen Nazimuster gegen „die Opfer“ agiert hat. Ob mir diese Geschichte (nicht) gefallen hat, ist genau genommen aber egal. Schließlich kann auch eine Jüdin doofe Geschichte schreiben. Der Umstand zu einer Gruppe zu gehören, deren Mitglieder vor 80 Jahren in großer Zahl zu Opfern gemacht wurden, macht die Mitglieder dieser Gruppe nicht zwingend zu besseren Menschen und natürlich auch nicht zu besseren Geschichtenerzählern, jedenfalls nicht alle. Gar nichts habe ich gewusst. Und im übrigen viele Geschichten auch sehr gerne gelesen. (Genau wie ziemlich viele andere Menschen, von denen jetzt erstaunlich viele schon immer ein dummes Gefühl gehabt haben wollen.) Viele dieser „Read on my dear, read on“-Geschichten haben Menschen und Begebnisse zum Leben erweckt, wie es nur wenige Historikerinnen schaffen. Das mag daran liegen, dass es nicht die wesentliche Qualität eines Geschichtswissenschaftlers ist, vergangene Geschichten erzählen zu können. Die Kernkompetenz muss immer das saubere wissenschaftliche Arbeiten sein: Sekundärliteratur umfassend kennen und stets ausweisen, wo die eigenen Erkenntnisse auf der Arbeit der Vorgänger beruhen, nachvollziehbare Hypothesen und Fragestellungen entwicklen und sauber in den Primärquellen recherchieren. Erst dann kommt das Erzählen.

Ich stelle mir vor, dass das Fräulein an der irischen See so angefangen hat und dabei ein Talent entwickelt hat, das ich nicht kleinschätzen möchte: Geschichten über Menschen, die ihr Leben vor unserem gelebt haben, so zu erzählen, als passierte es in all seinen kleinen und großen Begebnissen gerade jetzt. Das ist nicht wenig. Nur leider reicht es nicht, ganz und gar nicht. Da hat Frau Gröner auf jeden Fall recht. Für das Fräulein hoffe ich, sie hat am Institut sauber gearbeitet und ein Leben jenseits der unscharfen Ränder. Für uns andere hoffe ich, wir erhalten uns das Internet in all seiner wunderbaren Vielfalt. So dass darin Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung für uns alle zugänglich sind. So dass wir uns darin Geschichten erzählen können. Wahre und ausgedachte. Aus längst vergangenen Zeiten oder mit mystischen Begebenheiten und Mumien, die plötzlich zum Leben erwachen. So dass wir uns sogar zum Rollenspiel verareden können. Wir scheinen beides zu brauchen um die Welt zu verstehen. Seit ich all diese Physiker beim Rollenspiel getroffen habe, denke ich, dass die Untersuchung der Welt nach nachprüfbaren Phänomenen und Gesetzmäßigkeiten, ein Bedürfnis offen lässt, die Welt auch noch anders zu erfahren. Unbedingt aber müssen wir klare Kanten aufzeigen. Jeder Leserin und jedem Nutzer muss klar ersichtlich sein, ob gelebte Geschichte faktenbasiert nacherzählt wird oder literarische Erfindungen.

Übrigens: Das Ärgernis um die behaupteten Geschichten des Fräuleins hat Claus Graf hier ganz gut zusammen gefasst.

Schreibe einen Kommentar