Einige Bemerknisse zum Zugfahren
1. Zugfahren ist super zum Nachdenken
Wir sitzen im Zug und ich find’s toll. Endlich mal wieder Zeit, in Ruhe was zu lesen. Also nicht nur drei Seiten und schon ist es so spät-müde, dass ich dringend einschlafen muss, wegen morgen, dem frühen Wecker und all der „Muss-ich jetzt-erledigen“-Dinge, die dann folgen. Außerdem ist das Internet auch in ICEs mehr so ein vorbei flatterndes Phänomen, eines, dass ich als eingebautes On-Line- Detox- Werkzeug einstufen möchte. Vier ganze Stunden zum Lesen, Denken, aus dem Fenster-Gucken, dem Alltagsprinzen beim Vorlesen zuhören (Pettersson und Findus für das Kind, das inzwischen einen Zuckerschock haben muss).
2. Zugfahren schafft Redeanlässe
Fast immer gibt es kleine Missgeschicke beim Zugfahren. Der Zug fällt – Achtung! Megaschlimm – in der falschen Wagenreihung ein, so dass etliche Menschen außen an den Waggons entlang hetzten um Wagen Nr. 22 zu finden, der jetzt gar nicht im Abschnitt C zum Halten gekommen ist. Oder Passagiere, die nicht rechtzeitig aufgepasst oder nachgedacht oder beides haben, müssen– Achtung: Noch schlimmer, quasi megamegaschlimm. – im Zug große Rollkoffer durch enge Gänge schlängeln. Wie gut, dass man dann mit jeder zweiten oder dritten Person, deren Fuß man rammt, Verbrüderung über die Zumutungen der deutschen Bundesbahn feiern kann. „Falsche Wagenreihung beim Einfahren, unverschämt, wissen Sie, meinem Mann wird das zu viel die schweren Koffer durch die engen Gänge…“ „Ja, das geht gar nicht, wozu zeigt man sie auch an, wenn sie dann gar nicht eingehalten wird.“
Unser erste Zug hat leichte Verspätung, weshalb wir den Anschlusszug am ersten Umsteigebahnhof verpassen, was nicht weiter schlimm ist, weil wir am zweiten Umsteigebahnhof mit ein wenig Rennerei, die ursprünglich geplante Regionalbahn doch noch schaffen. Genau genommen, kommen wir bis auf ein paar Minuten genauso an wie geplant. Aber wir haben Small-Talk-Redestoff für locker drei Mal zwanzig Minuten mitgebracht. Zum Beispiel mit den Leuten in der Regionalbahn, die Weihnachtsdeko für 25 Prozent des Originalpreises ergattert hatten. Zum Beispiel mit der Tante, die so viel schlimmen Stau auf der Autobahn zu bestehen hatte. „Wie man’s macht, …“ „Ach ja, es ist schwierig.“ Zum Beispiel mit der Oma des Kindes und mit der anderen Tante. Zum Warmreden ist so eine kleine Unbill des Bahnfahren wunderbar geeignet.
3. Die deutsche Provinz ist beruhigend schön
Zugfahren ist ganz wunderbar zum Aus-dem-Fenster-Gucken. Es gibt vereinzelt herum stehenden deutschen Wald, zum Teil schon mit herbstlich bunten Blättern, sanft drehende Windmühlen, Felder, Feldwege und überwiegend unauffällige Einfamilienhäuschen. Alles eine prima Leinwand zum Weiterdenken. In dieser unauffälligen Kleinstadt dort, die alle halbe Stunden einen vorbeiratternden Zug ertragen muss, dort könnte dieses mittelalte Ehepaar leben, sie arbeitet irgendwas in der Kundenberatung, er ist KFZ-Mechatroniker. Sie dekoriert alles bis auf den letzten Zentimeter, jetzt zum Beispiel mit kleinen Zierkürbissen, die sich auf Fensterbänken tummeln, einem passenden orangenen Tischläufer und hübschen kleinen Vasen mit einzelnen Astern, alles ganz modern, nur weil man auf dem Land lebt, ist man ja nicht gleich vom hinterm Mond, nicht wahr? Er hält den Garten in Schuss, sogar einen Teich hat er angelegt, wie ich gut aus dem Zugfenster erkennen kann, außerdem hübsche Rabatten mit blauen und weißen Blumen, zwei Garagen haben sie. Bestimmt verbringen sie ihre Wochenenden mit Skatabenden, Chorproben und Rollenspielen. Manchmal unternimmt sie Shoppingausflüge mit ihren Freundinnen nach Hannover, durch das wir eben mit dem Zug gefahren sind. Da mal weiter drüber nachdenken, irgendwann habe ich einen Roman zusammen.
4. Zugfahren ist super zum Beobachten von Leuten
Gelegentlich sitze ich in Cafés, lese Zeitung oder das Internet leer. Zwischendurch schaue ich mir die Menschen an, die vorbei gehen und denke mir ihr Leben aus. Oder ich denke, wieso hat die Frau da vorne so viel Lila an? Vielleicht sollte ich auch mal eine dunkelblaue Jeansjacke anprobieren. Oder dieses grüne Kleid dort. Aber warum orange Haare? Im Zug geht das Nachdenken über Leute noch viel besser, weil sie so brav vor mir sitzen bleiben. Zum Beispiel dieses Paar, das sich an den Tisch neben unserem gesetzt hat. Zwei Frauen, eine große etwas kantige, die ihr Gesicht ein Leben lang viel und gerne in die Sonne gehalten hat. Nun hat sie es dezent geschminkt, die andere etwas kleiner und weicher in den Zügen ist blass-grau ungeschminkt. Sind sie ein Paar? Womit verbringen sie wohl ihre Freizeit? Bei der Familie ein paar Reihen weiter hinten ist das klar. Die erziehen das Nesthäkchen in ermüdend vielen Details. Setze Dich gerade hin, iss den Keks ordentlich. Was haben wir gesagt, wenn Du noch einmal deinen Hasen herunter wirfst, dann nehme ich ihn dir weg. Ich sollte es öfter tun.