Vorher, vorher stelle ich es mir immer ganz nett vor. Ich sehe mich entspannt in einem Zug sitzen, an einem Tisch, einen schwarzen Kaffee neben mir, geschäftig tippe ich etwas in meinen Computer. Wie so’n Erwachsener, der im Zug ein wenig arbeitet. Wenn ich es recht bedenke, ist das irgendwie keine Geschichte. Die echten Geschichten passieren auf echten Reisen und die laufen irgendwie nie so glatt. Aber vielleicht sollte ich mit einer guten Nachricht anfangen, auf dem Bahnhof in Göttingen habe ich eine Menge netter Leute kennen gelernt.
Leute, die ich nie kennen gelernt hätte, wäre die Strecke zwischen Göttingen und Hannover am späten Vormittag nicht vollständig gesperrt worden. Es gab wohl ein technisches Problem in einem Tunnel auf dem einen Schienenstrang, der andere musste stundenlang gesperrt werden, weil sich jemand vor den Zug geschmissen hatte. Traurig, dass ein Mensch so krank vor Lebensmüdigkeit ist, dass er das tun muss. Auf dem Bahnhof in Göttingen sahen das zunächst die meisten auch so. Vielleicht eine Stunde lang, fanden sie das. Dann ließ das Verständnis ein wenig nach, kaum merklich zunächst.
Zwei Stunden später, die Sonne schien immer noch, immer noch stand der Vorgängerzug auf dem Gleis, an dem eigentlich unser Zug hätte ankommen sollen, der inzwischen abgesagt worden war. Zwei Stunden später also äußerten die Ersten Unmut über soviel Rücksichtslosigkeit im Verkehr. Ein Pärchen mit einem dicken roten Rollkoffer, einem von der etwas günstigen Sorte, Bierbauch und verschnörkelten Tätowierungen bemerkte als erste die fehlende Rücksichtnahme, schließlich habe man selber ja auch noch Pläne. Und überhaupt, merkte eine blonde Dame fortgeschrittenen Alters an, sie fahre heutzutage nie mehr Zug, der Fernbus sei viel günstiger und brauche auch nur wenig länger. Außer heute und da sehe man ja wieder, was man davon habe. Eine Kleinfamilie wurde zunehmend unruhig, man wolle den Flieger in Hannover erreichen, ob man vielleicht doch den Bus oder gar ein Taxi zum Flughafen nehmen solle? Ein andere junger Mann bekam langsam Schiss, sein neuer Arbeitgeber sei nämlich und schließlich die Bundeswehr und ob die wohl Verständnis habe. Ach irgendwann gehe es schon weiter, bedand entspannt ein Mann in kurzen Hosen und trockenem Lächeln, wir hätten es hier ja recht sonnig. so sei Reisen nun mal gelegentlich. Und wandte sich wieder seine Lektüre zu.
Und tatsächlich, nachdem ich selbst ein paar Termine verschoben hatte, ging es auch weiter, in einem anderen ICE, mit anderen Menschen, die unangemessen empört waren, weil ihr Zug ganze zwanzig Minuten Verspätung, zwanzig Minuten, also wirklich, auf die Bahn sei heutzutage aber auch gar kein Verlass mehr. Ich habe sogar ein wenig gearbeitet. Aber man stelle sich nur mal vor, wir hätten nicht alle stundenlang auf einem Bahnhof mitten in Deutschland auf die Weiterfahrt warten müssen. Ich hätte doch glatt nix von dieser Fahrt zu erzählen gehabt.