Eigentlich war er da, um die CD seiner Band zu promoten. Auf einem anderen Festival in der Schweiz hatten sie nämlich von diesem Festival in meiner Provinz gehört und waren spontan hingefahren. Bis zu ihrem Auftritt im Okober in Landshut – wir brauchten mehrere Anläufe um Landshut zu verstehen – hatten sie alle Zeit der Welt. Und einen Auftrag, irgendwie Geld zu verdienen fürs Leben, für Studiomieten und für alles Andere. Jetzt aber hatte Eric irgendwie Zeit und Lust uns zu erzählen, wie es in Estland so ist.
Der Alltagsprinz hat ja Kollegen in Estland, mit denen er ab und an videotelefoniert. Kaupo saß sogar schon mal zum Abendessen in unserer Küche, ich bin mal mit einer Freundin durchs Land gereist. deshalb sind wir quasi Experten in Sachen Estland, oder naja wir können jedenfalls auch was zum Thema beitragen. Zum Beispiel, dass mir auch aufgefallen war, dass die Leute im Land aussehen wie in Deutschland wahrscheinlich zuletzt kurz nach dem zweiten Weltkrieg (und danach nie wieder): Alle sind blass und blond, oder zart gebräunt und braun, aber jedenfalls nicht Schwarz, oder braun und schwarzhaarig, oder doll gelockt oder … Sie verstehen die Idee. „Ja“, sagte, Eric. „Niemand kommt je zu uns.“ Er erinnere sich noch genau an den Moment … also dazu müsse man wissen, er wohne in einem Außenbezirk von Talinn, da gebe es ein Museumsdorf und einmal sei ein Amerikaner da gewesen, der habe sein Auto parken wollen, um dann eben dieses Museumsdorf zu besichtigen. Zu Fuß einmal über die Straße, mit dem Auto aber recht kompliziert in einem großen Bogen durch mehrere kleine Straßen. Jedenfalls sei das für ihn damals zu schwierig zu erklären gewesen, deshalb habe er sich kurzerhand zu dem Amerikaner ins Auto gesetzt und ihm den Weg gezeigt, der sei hinterher so dankbar gewesen. Dieser nette Mannn sei der erste Schwarze gewesen, den er jemals gesehen habe, klar im Fernsehen habe er schon mal Schwarze Menschen gesehen, aber so im echten Leben halt noch nie. Genauso atemlos ging es weiter, über die Nähe zu Finnland und wieviele Esten in Finnland auf Baustellen oder anderen schlecht bezahlten Jobs schuften, aber dass die Esten irgenwie auch eine finnische Mentalität hätten, keine russiche jedenfalls. Er, Eric wisse das, sein Großvater lebe schließlich in Russland, er spreche auch russisch, aber trotzdem wenn er in der Kneipe Leute kennen lerne, dann ginge es auch immer darum, echte Freunde kennen zu lernen, solche, die einen im Ernstfall zur Seite stünden (ab dann wurde es etwas wild), also es könne schon passieren, dass man ein falsches Wort sage oder einen zu langen Blick riskiere und dann müsse man sich eben draußen prügeln, aber wenn man sich dann nach bestandener Klopperei die Hand gebe, dann wisse man der andere sei ein echter Kerl, der einem zur Not auch gegen die Russen zu Seite stünde. Der Alltagsprinz warf ein, dass diese kleine Stadt wo das große Festival nun stattfinde, dass eben dieses Festival mal entstanden sei, um Leben und Kultur in die Grenzregion zu bringen, denn hier sei ja die innerdeutsche Grenze gewesen. (Dabei ist das ja meine Provinz und der Alltagsprinz hat gar nicht hier gelebt, als die Soldaten der Nationalen Volksarmee noch auf Wachtürmen entlang der Werra standen und eine der bestbewachten Grenzen der Welt sich durch unser Land wand.) Ja genau, sagte ich der Fluss da vorne, der war mal kilometerlang die Grenze zum Kommunismus und den Russen (Genau genommen begann die Grenze erst einige Kilometer weiter flussabwärts, aber sei es drum, so genau waren wir mit ein paar getrunkenen Bier und der Nacht im Körper halt auch nicht mehr.). Es war schon spät, einer seiner Freunde rief aus dem Hintergrund, sie führen gleich. Und auch wir wollten ins Bett. Wir hatten ein super Einstiegskonzert der Sportfreunde Stiller gehört (also ich, der Alltagsprinz fand wohl, es sei da noch ein bisschen Luft nach oben), ich hatte mit gegrölt und getanzt und eigentlich waren wir fertig mit dem Tag. So auf die gute, ferienhafte Art fertig.
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Wir sitzen in der Sonne, also wir saßen in der Sonne, vor dem Kleinkunstzelt. Eben war meine Freundin aus Bielefeld angekommen (Ich weiß, ich weiß, Bielefeld gibt es gar nicht, wir würden im weiteren Verlauf noch Scherze darüber hören.). Weder im Weinzelt noch im Kleinkunstzelt war irgendwas los, aber das machte nichts. Es liefen ja genug Leute durch die Gegend, die man begucken konnte. „Wo sind denn eigentlich die Gänse?“, fragte meine Mutter. Genau, die sollten doch dieses Jahr auch wieder da sein. Hier waren sie jedenfalls gerade nicht. Später sahen wir sie in der Stadt zur „Ode an die Freude“ marschieren. Die meisten Leute lächelten unwillkürlich, wenn die Gänseschar mit eifrig wackelnden Hälsen in Zweiertrupps durch die Gegend marschiert. Übergroße Steinmenschen liefen auch herum, ab und an überagten sie jemanden oder begrüßten ein Kind.
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Die Donots spielten auf der großen Bühne. Und obwohl ich die gar nicht kannte, also auch nix mitgrölen konnte, tanzten wir mit. Alle ums herum machten das, so dass der Festivalstaub nur so flog. Wir hatten es wieder nicht geschafft zu der Frau zu gehen, die uns Glitzer ins Gesicht hätte malen sollen, aber Flair Tattoos hatten wir schon mal und ein Bier. Stimmungsmäßig konnte nix mehr schief gehen. Und als der Sänger erzählte, er habe gehört am Samstag solle ein Stand der AFD auf dem Marktplatz aufgebaut werden und ob wir die nicht mal besuchen wollten, schien mir das eine ziemlich prima Idee zu sein. Einzig meine Verschlafenheit und unser Vorhaben schwimmen zu gehen, hielt mich am nächsten Morgen davon ab. Aber irgendwas ist ja immer. (Ich sollte darüber nicht so hinweg gehen, der Faschismus ist eine viel zu gefährliche Sache.) Später las ich auf Twitter, dass die AFD dann doch keinen Stand hatte, weil das Ordnungsamt das wegen Sicherheitsbedenken kurzfristig untersagt hatte. Puuh, waren wir doch nicht die letzte Bastion. Schwimmen im Freibad ist in der Provinz übrigens eine feine Sache. Das kleine Freibad wird inzwischen von einem Verein betrieben, seit die Nachbarstadt es vor ein paar Jahren eigentlich dicht machen wollte. Außer uns waren nur ein paar Menschen im feinen Nieselregen unterwegs. Ich konnte in aller Ruhe meine Bahnen ziehen. Ach, es war wundervoll. So hübsch gepflegte, ein bisschen piefige und nicht allzu überfüllte Bäder gibt es in Hamburg irgendwie nicht.
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Wir hatten Bosse gehört, es so ganz okayisch gefunden. Und standen jetzt vor der kleinen Bühne im viel zu stickigen E-Werk, als Contrabrass mit Hip-Hop-Reimen, Bläsern und dem Susafon loslegten. Eigentlich hätte ich noch mal auf die Toilette gemusst, aber dazu war jetzt wirklich keine Zeit mehr. Die Contrabrass sprechsangen über die Wahrheit, das Susafon und alles mögliche, was ich nicht genau verstand. Egal, wir ‚mussten’ schließlich auch mittanzen. Und es war heiß, und laut, und toll.
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Fast am tollsten finde ich es ja immer, wenn man so ohne Absicht was toll finden kann. So ist das bei Michael Krebs passiert. Das kam so. Wir saßen mal wieder vor dem Weinzelt herum, als sich erstaunlich viele Menschen nebenan anstellten. Dann kann das ja gar nicht schlecht sein, so was in der Art müssen wir gedacht haben. Jedenfalls haben wir uns auch angestellt. Dann dauerte es erstaunlich lange, irgendwann hieß es der Flügel sei wohl kaputt und jetzt müsse ein Ersatzklavier beschafft werden. Wieder verging ziemlich viel Zeit, währenddessen tranken wir schon mal ein Kaltgetränk und dann noch eins, dann guckten wir ein paar Leute an, sprachen mit ein paar Menschen, zum Teil denselben, die wir vorher angeguckt hatten. Besprachen das kaputte Klavier und woher jetzt wohl der Ersatz käme. „Natürlich aus dem Bestand des Jazzclub“, rief meine Mutter. „Wir haben doch vor zwei Jahren extra ein E-Piano für solche Fälle angeschafft.“ Als wir dann endlich reindurften, machte Herr Krebs einige lobende Bemerkungen über den wirklich exzellent gestimmten Flügel, der aber leider ein kaputtes Pedal gehabt habe, aber wie toll die Open-Flair-Leute doch seien, denn jetzt sei ja quasi in null-komma-nix Ersatz beschafft worden. Dann setzt er sich mit schwungwoller Geste ans elektonische Gerät und fing ebenso schwungvoll an zu spielen mit dem Ergebnis … von nix. Kein Ton zu hören. Der ‚liebe Alex‘ aus der Kulisse müsse noch mal kommen, gemeinsam fand man den Knopf zum Anmachen und den Stöpsel zum Feststöpseln und Gaffertape zum Pedal festkleben – Pedale so wichtig, wenn man eine Aussage in der Luft hängen lassen möchte – währenddessen schwitzte und redete Herr Krebs höchst amüsant über die kleinen Fehler und Krisen und warum die auch zu was gut seien. Ach ja, richtig, Krise als Chance heiße sein Programm schließlich. Ich musste lachen. Auch weil der Herr Krebs, dem Alex, also nicht dem Festivalhelfer, sonderen einem anderen Freund (der auch schon lange gar nicht mehr in der Provinz lebt) erstaunlich ähnlich sieht, nicht nur in Bezug auf die Haarpracht, auch die Körperlichkeit war erstaunlich ähnlich. Und jetzt weiß ich bloß nicht, ob ich das alles so lustig fand, weil ich nix erwartet hatte, oder weil es wirklich ganz besonders gut war.
Aber meine Provinz, die ist toll. So, jetzt wissen Sie das auch mal. Und wenn Ihnen nächsten Sommer ein bisschen langweilig ist, dann fahren Sie da mal hin. Zonenrandförderung wie in den Achtzigern gibt es zwar nicht mehr, den Zonenrand ja auch nicht, aber das kleine, feine Festival, das ist noch da, jedes Jahr aufs Neue, nur dass es längst nicht mehr klein ist, sondern fast so groß wie die Kleinstadt, in der es stattfindet.